Nach dem Mitgliedervotum - Die Entwicklung der Partei und ihre Folgen

09. März 2018

Meine aktuellen Gedanken zum Stand der Dinge nach dem Mitgliedervotum habe ich in einem Brief an die Vorsitzenden des Unterbezirks Main-Spessart/Miltenberg, Kreisverbands Main-Spessart und Ortsvereins Frammersbach zusammengefasst.

Im Ortsverband und der regionalen Ebene wird gute Arbeit gemacht. Aber die Bundesebene bereitet mir Bauchschmerzen, was ich einmal offen ansprechen möchte.

Lieber Bernd, lieber Sven, lieber Florian, liebe Mitglieder,

das Ergebnis des Mitgliedervotums liegt vor. Jetzt steht fest, die SPD wird sich an einer erneuten Regierung mit der Union beteiligen. Ich selbst habe dies bei der Mitgliederbefragung mit einem Ja unterstützt. Allerdings nicht nur aus Überzeugung. Unserer Partei traue ich momentan weder eine erfolgreiche Positionierung bei einer Minderheitsregierung noch eine erfolgreiche Neuwahl zu.

Ich sehe die unbestreitbaren guten Bestandteile des Koalitionsvertrags. Im Bereich Kommunen, Bildung und teilweise Europa sind wirklich starke Dinge erreicht worden. Grundsätzlich ist es natürlich tatsächlich so, dass man nur gestalten kann, wenn man sich aktiv an einer Regierung beteiligt.

Aber es gibt auch große Lücken. Realistische Ansätze, wie man die Energieversorgung oder die Mobilität für die Zukunft gestaltet, wie die Sozialversicherungen stabil und lebensstandardsichernd erhalten werden können, oder wo das Personal für Kinder- und Pflegebetreuung überhaupt her kommen soll, findet man nicht. Die erneute Festlegung „ambulant vor stationär“ ist verheerend und wird zu einem Kollaps der Pflegeversicherung führen.

Schlimm ist auch die Tatsache, dass die AfD nun die Rolle der Oppositionsführung einnehmen kann. Die Zusammenarbeit der beiden Volksparteien ist für die Demokratie nicht gerade gut.

Dennoch sehe ich in der jetzigen Situation eine Regierungsbeteiligung als richtig an. Viele schreiben momentan, dass die Zukunft unserer Partei davon abhängt entweder in die Regierung zu gehen oder in die Opposition. Die jeweils andere Position würde zum Untergang führen. Aus meiner Sicht ist das aber nicht so sehr entscheidend. Regierung oder Opposition kann beides stärken und beides schwächen.

Ich sehe für die SPD ein viel grundsätzlicheres Problem. Unsere Partei steht nicht für die Zukunft. Sie ist eher Reparaturbetrieb für Entwicklungen der letzten Jahre. Mindestlohn, Rente mit 63 oder leichte Beschränkungen bei den Befristungen federn die Auswirkungen von Fehlentwicklungen ab - die wir leider zu einem Großteil selbst zu verantworten haben. Natürlich kann man stolz darauf sein, dass diese wichtigen Entscheidungen überhaupt getroffen werden. Punkten können wir damit bei den Wählern allerdings nicht. Die sagen uns dann schon, wem sie die unsicheren Arbeitsverhältnisse zu verdanken haben.

Bis heute ist keine ehrliche Aufarbeitung der Entwicklung seit 1998 erfolgt. Seither hat die SPD hunderttausende ihrer Mitglieder und die Hälfte ihrer Wahlstimmen verloren. Konsequenzen in der inhaltlichen und personellen Ausrichtung hat dies aber kaum gehabt. Es handeln seit 15 – 20 Jahren in Parteivorstand und anderen Führungspositionen überwiegend dieselben Personen. Wie ausgerechnet die nun für eine Erneuerung stehen sollen, erschließt sich mir nicht!

Ich hoffe trotzdem, dass es der SPD gelingt mit einer vernünftigen Regierungsarbeit etwas Kontinuität im täglichen Handeln wiederherzustellen. Bei der Ministerauswahl gibt es hier zumindest erste Anzeichen.

Parallel muss aber mit aller Kraft die Erneuerung der Partei vorangetrieben werden. Wie ich diesen Weg begleiten soll, habe ich mir lange überlegt. Vor der Bundestagswahl hatte ich gesagt, dass ich im Falle einer erneuten Großen Koalition meine Parteiämter (UB und KV) abgebe. Aber eigentlich ist das ja auch nicht der richtige Weg - auf der einen Seite zu aktiver Mitarbeit aufrufen und dann sich selbst zurückzuziehen, wäre nicht stimmig.

Ich kann aber auf keinen Fall so weiter machen, wie bisher.

Dinge, die ich falsch finde, möchte ich nicht mehr öffentlich verteidigen. Die Art und Weise, wie der Parteivorstand seit Mitte 2016 handelte, hat erst eine erfolgreiche Bundestagswahl unmöglich gemacht (hierfür trägt nicht Martin Schulz sondern Sigmar Gabriel die Hauptverantwortung!) und danach war das Verhalten aller Führungspersonen eine einzige Katastrophe.

Ich sehe es in keiner Weise ein, dieses Verhalten zu tolerieren oder gar öffentlich zu verteidigen. Im Gegenteil werde ich dies von nun an auch offen anprangern. Gleichgültig ob die aktuelle Parteiführung, Fraktionsführung oder der Ex-Vorsitzende, sie alle betätigen sich mit ihrem Verhalten als Totengräber der deutschen Sozialdemokratie. Und der Umgang des Parteivorstands mit den Beschlüssen der letzten Sonderparteitage bezüglich, ergebnisoffener Sondierung und fairer Auseinandersetzung mit dem Koalitionsvertrag, spottet jeder Beschreibung.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich soll das Verhandlungsteam für die Annahme werben! Dafür wurden Regionalkonferenzen genutzt, der Vorwärts, etc. Aber es kann nicht sein, dass in einem Briefwahlumschlag einseitige Werbung gemacht wird.

Ob man öffentlich für einen Egomanen wie Sigmar Gabriel Werbung machen muss, kann jeder für sich selbst entscheiden. Für mich hat er sich nicht erst seit seiner Äußerung bezüglich „des Mannes mit den Haaren im Gesicht“ diskreditiert. Habt ihr bei der Wahlveranstaltung in Gemünden mal mitgezählt, wie häufig der Name des Spitzenkandidaten Martin Schulz gefallen ist? Wenn überhaupt, dann äußerst selten. Soll das Solidarität im Wahlkampf sein? Und Solidarität zählt zu unseren Grundwerten!

Zum „guten“ Job als Außenminister sei dieser Link empfohlen: http://www.taz.de/!5486408/

Zum Glück begehrt die Basis nun lautstark auf. So wurde etwa auf den geplanten Wortbruch von Martin Schulz bezüglich der Regierungsbeteiligung und die Hinterzimmerklüngelei zum Parteivorsitz schnell reagiert. Mit dieser Art der Politik muss ein für alle Mal Schluss sein!

Dazu gehört auch objektiv mit den eigenen Entscheidungen umzugehen. Am Beispiel Koalitionsvertrag vermisse ich dies. Auch wenn man von dem Regierungseintritt überzeugt ist, frage ich mich, weshalb man nicht mal so viel Souveränität besitz, auch Schwächen offen anzusprechen?

Wir reden kleine Stärken groß und große Schwächen klein. Hat man schon mal nachgedacht, dass vielleicht genau dieses Verhalten den Bürgern gegen den Strich geht? Die Menschen sind ja nicht dumm. Man muss schon offen darstellen, was geht und was nicht. Und auch, weshalb etwas nicht geht.

Natürlich gewinnt man Wahlen nur, wenn man aufzeigt, dass man Stärken hat und etwas bewegen kann. Aber es muss auch möglich sein offen zu diskutieren. Sonst kann eine Neupositionierung nicht funktionieren.

Parteiintern habe ich immer wieder Dinge kritisch angesprochen - aber nach außen geschwiegen. Wenn ich dann erkennen muss, dass sich nichts verändert, kann ich das nicht mehr akzeptieren – und werde es auch nach außen nicht mehr mittragen.

Mir sind die Grundwerte dieser Partei wichtig und sie sind Orientierung für mein politisches Handeln. Aber ich würde meine eigene Glaubwürdigkeit beschädigen, wenn ich weiter so tue, als könnte ich hinter der aktuellen Politik dieser Partei und ihrem Führungspersonal stehen. Die Bundes-SPD (vor allem die Berater des Willy-Brandt-Haus) ist inzwischen so weit vom Bürger und den Lebensrealitäten weg, dass ich das so nicht ungefiltert mittragen kann.

Meine Bürgermeisterarbeit orientiere ich an den tatsächlichen Bedürfnissen in Frammersbach. Die SPD war eine starke Volkspartei, weil sie als politische Kraft wahrgenommen wurde, die ihr Handeln an den Bedürfnissen der breiten Masse ausgerichtet hat. Man muss hinterfragen, weshalb das inzwischen nicht mehr der Fall ist.

Ich werde die inhaltliche und personelle Erneuerung offen begleiten. Dabei werde ich die Gegenkandidaten für den Parteivorsitz unterstützen, damit endlich Bewegung in den Erneuerungsprozess kommt. Ich werde auch beobachten, wie sich die SPD-Mandatsträger hier in der Region in diesem Prozess verhalten und auch dazu meine Meinung ungeschminkt äußern.

Für alle, die nach der Entscheidung über die Regierungsbeteiligung, mit ihre Partei hadern und austreten wollen, möchte ich Kevin Kühnert zitieren: „Aus der SPD tritt man nicht aus, aus der SPD stirbt man raus.“

Auch wenn ich selbst mit der Politik der letzten Jahre wirklich meine Probleme habe, so bleibt aber festzustellen, dass man nur etwas bewegen kann, wenn man dabei ist. Wer sollte denn die Themen der Menschen vor Ort einbringen, wenn nicht die Menschen vor Ort? Wenn wir austreten und das Feld alleine Parteifunktionären und Politberatern überlassen, muss man sich natürlich nicht mehr darüber ärgern mal bei Abstimmungen zu unterliegen. Aber eins ist dann auch sicher: Unsere Themen werden nicht gehört.

Und eines möchte ich auch mal in aller Deutlichkeit sagen. Wer sich über soziale Ungleichheit beschwert und dann die AfD wählt, der soll sich gefälligst auch die Arbeit machen, deren Programm durchzulesen und ernsthaft zu überlegen, was das für einen selbst, die deutsche Wirtschaft und das Zusammenleben in diesem Land bedeutet.

Ein Beispiel: Bezüglich des Umgangs mit den vielen Flüchtlingen sind verheerende Fehler gemacht worden, die dringend zu korrigieren sind. Die Frage ist nur wie! Für einzelne Länder kann eine Abschottung ein gangbarer Weg sein. Deutschland ist Exportweltmeister. Bitte mal drüber nachdenken, was ein Schließen der Grenzen für uns bedeuten würde (gerade im Lohrer Talkessel hängt ein Großteil der Jobs direkt und indirekt von Auslandsexporten ab!).

Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Aber es muss eben auch Aufgabe der Sozialdemokratie sein, diese Mitte zu finden. Dazu müssen vorhandene Probleme offen angesprochen und gelöst werden. (Das gilt auch für 1000 andere Themen!)

Dazu werden viele Menschen notwendig sein, die sich einmischen und mitwirken. Gerade in dieser Situation möchte ich appellieren, sich nicht abzuwenden, sondern Veranstaltungen von Parteien zu besuchen und am besten aktiv mitzuarbeiten. Wenn möglich natürlich bei der SPD.

Mein Herz hängt an dieser Partei. Deswegen hoffe ich inständig, dass wir zu alter Stärke zurückfinden!

Mit solidarischen Grüßen

Christian Holzemer

Seit 1999 SPD-Mitglied
Bürgermeister

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