360.000 Mitglieder meiner Partei sind momentan aufgefordert über den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD abzustimmen. Soviel gleich vorweg – ich werde mit Ja stimmen. Ist das eine leichte Entscheidung? Einerseits ja, aber auch nicht so ganz ohne Skepsis.
Der Vertrag trägt den Titel „Verantwortung für Deutschland“. Das trifft es ganz gut. Es geht um nichts weniger, als dieses Land und seine Demokratie wieder ein Stück weit zu stärken und zu stabilisieren.
Es geht darum, dass Parteien der Mitte wieder zeigen, dass sie Probleme lösen können. Wer eine große gesellschaftspolitische Erzählung sucht – wie noch im letzten Koalitionsvertrag der Ampel „Mehr Fortschritt wagen“ –, wird nicht fündig werden. Auf mich machen die 144 Seiten den Eindruck, dass die verhandelnden Personen erkannt haben, dass es in erster Linie darum gehen muss, akute vorhandene Probleme zu lösen und abzuarbeiten – bevor immer wieder neue Projekte gestartet werden, bei denen man sich verzettelt und die Bürger am Ende den Überblick verlieren.
Es gibt wahrlich genug zu tun: Die bröckelnde Infrastruktur gilt es zu sanieren. Die Wirtschaft soll wieder laufen. Die lähmende Bürokratie – vor allem endlose Genehmigungsprozesse und Dokumentationspflichten – muss eingedämmt werden. Es gilt den Bausektor wieder anzukurbeln. Und wir müssen uns wesentlich stärker um Sicherheitsfragen kümmern, was vor allem Migration, innere Sicherheit und unsere Bundeswehr betrifft.
Einige Bereiche sind schon recht konkret beschrieben. An anderer Stelle beschränken sich die Koalitionäre eher darauf den Handlungsbedarf zu beschreiben – z.B. Pflege oder Krankenhäuser.
Neben der notwendigen Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und dem notwendigen weiteren Pfad zur Energiewende werden aber tatsächlich die wesentlichen Themenbereiche angesprochen.
Erwartbar gibt es Kritik an den angeblich fehlenden Zukunftsvisionen. Für mich persönlich ist das aber auch eine Stärke. Die abgewählte Regierung ist nicht zuletzt auch daran gescheitert, dass sie in einer Zeit multipler Krisen die Alltagsprobleme aus dem Blick verloren hat.
Helmut Schmidt wird der Satz zugeschrieben: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“ Dieser Satz wird zwar immer aus dem Zusammenhang gerissen zitiert – Schmidt war in Wirklichkeit ein Mann mit Weitsicht (siehe Nato-Doppelbeschluss) -, doch er trifft einen wichtigen Kern, der dem ehemaligen Kanzler sehr wichtig war: An erster Stelle müssen für Menschen in Verantwortung die Alltagssorgen der breiten Mehrheit der Bevölkerung stehen, denn ohne Sicherheit im täglichen Leben ist der Veränderungswille nicht ausgeprägt.
Nachdem ich mir die 144 Seiten durchgelesen habe, komme ich zu dem Schluss, dass die potentielle nächste Regierung genau da ansetzen möchte. Und das ist dringend nötig.
Soweit, so gut.
Dieser Koalitionsvertrag hat dennoch auch deutliche Schwächen. Das fängt beim Personal an. Ich bin gespannt, ob Merz zu einer höheren Zustimmungsrate kommen wird, als Olaf Scholz. Andere führende Personen in der Union müssen noch zeigen, dass sie nicht nur markige Opposition können, sondern auch staatstragende Regierung. Wie sagt man so schön: Man wächst mit den Aufgaben.
Die erste Bewährungsprobe war nicht sonderlich erfolgreich. Die Entscheidungen zur Schuldenbremse und zum Sondervermögen waren richtig und wichtig. Aber sie wurden nicht besser kommuniziert, als unter der Ampel. Die Union wurde von unhaltbaren Wahlversprechen eingeholt, noch bevor die Regierung überhaupt im Amt ist. Das könnte den zukünftigen Kanzler noch einige Male ereilen. Aber ich hoffe wirklich, dass es im Laufe der Wahlperiode gelingt, die Kommunikation zu verbessern.
Mir fehlt aber auch die klare Ansage. Wir Kommunen sind immer häufiger gezwungen unangenehme (Kürzungs-) Entscheidungen zu treffen und auch in aller Deutlichkeit darüber zu sprechen, dass schwierige Zeiten anstehen. Auf Bundesebene fehlt dies bisher komplett. Es werden weiterhin Wahlgeschenke verteilt. Jedes einzelne kann man für richtig halten. Das will ich nicht in Abrede stellen. Aber kann es so weiter gehen?
Besteuerung von enormen Vermögen oder Erbschaften (bei hohen Schonvermögen) – Fehlanzeige. Veränderungen im Rentensystem angesichts einer dramatischen demographischen Entwicklung – Fehlanzeige. Eindämmung der ausufernden Sozialkosten für Kommunen – Fehlanzeige. Eine ehrlich gesteuerte Zuwanderung in Anbetracht eines sich immer weiter zuspitzenden Arbeitskräftemangels – Fehlanzeige. Eine echte finanzielle Rettung der Kommunen zur Bewahrung der Daseinsvorsorge vor Ort– Fehlanzeige.
Der letzte Kanzler, der zu mutigen Reformen bereit war und dafür auch seine politische Zunft riskiert hat, war Gerhard Schröder. Er ist heute für sein Handeln nach 2005 zurecht in Verruf. Seine Agenda 2010 hatte erhebliche Mängel, da sie auf ein schützendes Netz verzichtete. Aber von seinen Reformen wurde eine Phase des Wachstums ausgelöst.
Wir brauchen eine neue Agenda – aber ohne die Fehler von 2003. Wobei inzwischen durch den Mindestlohn eine Absicherung der Lohnentwicklung nach unten eingezogen wurde. Natürlich geht die Aufforderung diesen Reformbedarf anzuerkennen in erster Linie an meine eigene Partei. Wenn man seit Jahren einen Großteil der Stimmen nach „rechts“ verliert, dann kann die Antwort nicht mehr „links“ sein. Dann muss man sich hinterfragen. Aber das ist unsere interne Aufgabe. Nun geht es erst mal um eine Regierungsbildung.
Dieses Land braucht eine stabile Regierung aus der demokratischen Mitte mit eigener Mehrheit. Alles andere sind unverantwortbare Experimente, die den Herausforderungen durch die Weltlage, den Klimawandel und den enormen Erneuerungsbedarf nicht gerecht werden. Das alleine wäre schon Grund genug, für diese Koalition zu stimmen.
Mit einer Ablehnung des Koalitionsvertrags würde dieses Land politisch ins Chaos gestürzt werden. Das wäre unverantwortlich. Eine solche Flucht vor Verantwortung wäre für mich das Ende meines parteipolitischen Engagements. Die Parteien der demokratischen Mitte müssen in der Lage sein, Kompromisse zu finden und miteinander zu koalieren. Ich bin optimistisch, dass es gelingen kann wieder besser zu regieren und vor allem die Kernanliegen der Menschen nach Sicherheit und wirtschaftlicher Stabilität in den Mittelpunkt zu rücken.
Mit Blick darauf, welche Verwerfungen weltweit drohen, ist das eine enorme Herausforderung, die wir gemeinschaftlich angehen sollten.