Ein Zukunftsprojekt für die Sozialdemokratie

Am 01.09.2019 wurde in zwei Bundesländern ein neuer Landtag gewählt. Über die Ergebnisse wird seither viel diskutiert, manches schöngeredet.

Positiv ist jedenfalls, dass der befürchtete Totalabsturz von Union und SPD jeweils in einem Bundesland nicht stattgefunden hat. Aber es ist und bleibt erschreckend, am Tag, an dem sich der Ausbruch des 2. Weltkriegs zum 80.x jährte, zu erleben, dass rund ein Viertel der Wähler einer Partei ihre Stimme gaben, deren Spitzenfunktionäre in beiden Bundesländern offen rassistisch und rechtsextrem sind.

Am Wahltag wurde schwarz auf weiß verdeutlicht, dass ein Riss durch die Gesellschaft geht. Über den Umgang damit gehen die Meinungen weit auseinander – vor allem über den Umgang mit der AfD.

Man muss immer die Politik der vergangenen Jahre hinterfragen und sich Kritik stellen. Nicht nur, weil es immer wieder zu Fehlentwicklungen kommt, die korrigiert werden müssen, sondern, da jede Zeit ihre eigenen Antworten benötigt.

Das wusste schon Willy Brandt. Deutschland mit sich und dem Ausland zu versöhnen, die Gesellschaft wieder zusammenzuführen und auch die Welt zu einem friedlicheren Ort zu machen, dies war sein großer politischer Antrieb – und die unbestreitbaren Erfolge dabei, sein großer Verdienst.

Natürlich war es nicht alleine der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik. Er hatte eine Partei hinter sich, die diese Werte teilte. Ja, die das als ihre Vision verfolgte.

Die Meinungen darüber, wann ein Land gerecht ist, werden immer auseinandergehen. Wichtig ist es, einen gesellschaftlichen Grundkonsens darüber zu erzielen.

Der SPD ist es über viele Jahrzehnte gelungen, so ausgleichend zu agieren, dass sie für eben einen solchen Konsens stand. Auch der Union ist dies gelungen. So haben die beiden Volksparteien lange zu politischer Stabilität beigetragen.

Gelitten hat dies durch zwei große Effekte. 1. Die vielen gemeinsamen Regierungsjahre hinterlassen auf beiden Seiten ein Vakuum. Die SPD und Union sind (auf den ersten Blick) kaum noch unterscheidbar. 2. Der politische Kompromiss ist in den letzten Jahren in Misskredit geraten. Die Gesellschaft ist individueller geworden, was dazu führt, dass man den eigenen Standpunkt durchgesetzt sehen will.

Zu 1.
Auch wenn ich aus der Sichtweise eines Bürgermeisters ein großes Interesse an einer stabilen Bundesregierung habe, kann ich die Augen nicht davor verschließen, dass dieses Regierungsbündnis die Politikverdrossenheit enorm befeuert. Zwar arbeitet die Koalition ihre Gesetzinitiativen konsequent ab. Aber der Umgang untereinander und das Fehlen eines Zukunftsthemas als gemeinsamer Nenner, zeigen, dass die Gemeinsamkeiten aufgebraucht sind.

Mit Blick auf Spanien oder Italien bin ich zwar immer noch der Meinung, dass es richtig war, 2017 eine Neuwahl zu vermeiden. Aber es sollte doch zu einem anderen Regierungsbündnis kommen. Durchaus schon vor dem nächsten regulären Wahltermin.

Aber bei aller berechtigter Kritik an der aktuellen Bundesregierung. Ein Blick nach Großbritannien, in die USA oder nach Brasilien zeigt, dass es durchaus positiv sein kann, wenn Personen eine Regierung stellen, die nüchtern, konsequent und vernünftig einen Koalitionsvertrag abarbeiten, ohne dabei in ständigen Populismus zu verfallen.

Zu 2.
Grenzen dicht oder Willkommenskultur. Klimakatastrophe oder Leugnen des Klimawandels. Dies sind extreme Positionen, auf die sich in den vergangenen Jahren große Teile der öffentlichen Diskussion versteift haben. Fein ausgestaltete Zwischentöne dringen eher seltener durch. Um jeweils noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, wird zu allem Überfluss noch extrem vereinfacht und zugespitzt.

Hinweise, dass jede Medaille zwei Seiten habe, dass man doch differenzierter an Problemstellungen herangehen sollte, dringen kaum durch. Dieser Trend wird durch die Geschwindigkeit der sozialen Medien noch befeuert. Um im schnellen Takt Schlagzeilen zu produzieren, sind langatmige Recherchen nicht mehr möglich.

Wenn es sich nun eine Partei ganz bewusst nicht so einfach macht, nur das eine Extrem zu vertreten, sondern verschiedene Sichtweisen einbezieht, dann passt dies aktuell kaum noch in den Zeitgeist.

Doch genau dies brauchen wir, wenn die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderbrechen soll. Die Wahrheit ist nicht schwarz oder weiß. Die Alternative ist nicht: Wieder Grenzkontrollen aufbauen oder unkontrollierte Einreise.

Gerade dieses Themenfeld müsste wesentlich differenzierter betrachtet werden. Es fängt schon damit an, dass es schlicht nicht zu finanzieren wäre 3757 Kilometer Grenze wirklich dicht zu machen. Im Fokus stehen bei vielen Diskussionen die Schnellstraßen. Aber was ist mit dem offenen Feld, mit Waldgebieten, mit Gewässern,… ?

Es wäre zudem auch wirtschaftlich nicht sinnvoll. Die Exportnation Deutschland profitiert von den offenen Grenzen in sehr hohem Maße. Würde jede Lieferung wieder durch eine Grenzkontrolle verzögert, führt das zu einer Kostenexplosion im Lieferservice.

Ein anderes Feld ist die Zuwanderung. Über viele Jahre hinweg wird die Anzahl an Personen, die in Rente/Pension gehen, um mehrere Hunderttausend höher sein, als Menschen, die ins arbeitsfähige Alter kommen. Natürlich können wir nicht alle demographischen Probleme mit Zuwanderung lösen. Aber es wird schlicht nicht ohne gehen!

Auch beim Klimaschutz ist die Sachlage etwas komplizierter, als gelegentlich dargestellt. Nicht, was die verheerenden Auswirkungen der Naturzerstörung angeht. Es ist dringend ein Umsteuern notwendig!

Jedoch wird das nicht von Deutschland alleine zu schultern sein. Selbst wenn wir den CO2 Ausstoß halbieren, wird das keinen nennenswerten Effekt auf das Weltklima haben. Da müssen größere Räder gedreht werden. Allerdings haben wir darauf durchaus großen Einfluss. Für viele notwendige Veränderungen ist eine grundlegende Verhaltensänderung notwendig. Etwa bei der Lebensmittelversorgung – mehr heimische Produkte, dafür weniger z.B. aus dem Amazonasgebiet.

Es wird aber nicht funktionieren diese Veränderungen zu erzielen, ohne die Menschen aus Überzeugung mitzunehmen. Außerdem muss verhindert werden, dass solche Veränderungen zu Lasten der Menschen gehen, die schon jetzt finanziell schlechter gestellt sind. Lebensmittel aus nachhaltiger Erzeugung werden teurer sein. Deswegen müssen die Haushalte an anderer Stelle entlastet werden, etwa bei den Sozialabgaben.

Ich weiß, dass das jetzt nur sehr oberflächlich angekratzt war, möchte an dieser Stelle aber nicht weiter ins Detail gehen.

Mir ist eines wichtig: Es muss wieder zu Kompromissen kommen, die von einer großen Mehrheit getragen werden. Dazu ist die Politik gefordert, sich stärker anzustrengen, um ausgleichend zu wirken und mit Überzeugung den gesellschaftlichen Wandel anpackt. Und jeder von uns muss auch bereit sein, von eigenen Maximalforderungen abzuweichen.

Wir müssen aufhören, immer nur eine Seite der Medaille zu betrachten. Natürlich findet man Länder, in denen die Steuer- und Abgabenquote niedriger ist. Aber man findet genauso Länder, in denen die Sozialsysteme geringer ausgestattet sind, man Trinkwasser im Supermarkt kaufen muss oder die Straßenqualität weit unter unseren Ansprüchen liegt. Die Wahrheit wird immer in der Mitte liegen.

Kurz: Es wird Zeit einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Das könnte ein neues Projekt für die Sozialdemokratie sein.

Es gibt so viel zu tun. Das tägliche Leben dreht sich nicht nur um die Themen Einwanderung und Klimawandel. Zu einem modernen und guten Leben zählt auch, vernünftige Infrastruktur mit Mobilfunk, Breitband, Straßen, Brücken, Schulen, Kitas, ÖPNV...

Es gibt aber auch viele Bereiche, die wir öffentlich gar nicht im Fokus haben, weil sie nicht so „trendy“ sind. Funktionierende Abwasserbeseitigung, funktionierendes Stromnetz, funktionierende Trinkwasserversorgung, ein bezahlbares Bestattungswesen, gepflegte öffentliche Plätze, Wander- und Radwege. Ich könnte die Aufzählung noch weiterführen. Die Infrastruktur ist in großen Teilen am Rande der Lebensdauer.

Das muss wesentlich stärker in den Fokus gerückt werden. Es wird eine enorme Anstrengung, die Dinge, die uns wichtig sind, aufrechtzuerhalten. Menschen werden Politik immer an Themen messen, die sich auf ihren Alltag auswirken. Das ist auch der Klimawandel – aber eben nicht nur. Wenn Schulen verfallen, wird es keine Akzeptanz für Kohleausstieg geben. Deswegen müssen wir wieder stärker an den vielen konkreten Dinge arbeiten, die das Leben der Menschen Tag für Tag beeinflussen.

Müssen wir dabei auf radikale Kräfte zugehen, weil sie nun so stark gewählt wurden?

Dazu gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Ich hätte sicher kein Problem mit einem H. Lucke zu diskutieren. Er war politisch anderer Meinung aber ein echter Demokrat. Bei H. Kalbitz, H. Höcke und anderen sieht das aber anders aus.

Für mich gibt es deswegen keine Möglichkeit einer Zusammenarbeit. Eine Partei, die solche offensichtlichen Nazis in ihren Reihen duldet, die bewegt sich außerhalb dessen, was ich bereit bin zu akzeptieren.

Und Menschen, die solche Leute wählen, die sollten genauer überlegen, ob sie das tun sollten. Vor 90 Jahren hat schon einmal eine Partei mit denselben Parolen versprochen, das Land zu großer Blüte zu führen. Ergebnis war nicht nur Krieg und Verwüstung, sondern vor allem bittere Armut der breiten Masse der Bevölkerung.

Protest ist dann wohl doch bei einer Satirepartei besser aufgehoben. Aber das nimmt uns alle nicht aus der Verantwortung, die Probleme zu lösen, die zu solch tiefgreifender Unzufriedenheit führen.

Lasst uns deswegen an neuen gesellschaftlichen Kompromissen arbeiten, die das Leben der Menschen tatsächlich lebenswert erhalten!